FFL#8: 10 Plattformen, von denen sich die neue was abschauen sollte
Teil 4 der Reihe über ÖRRNie, ein Social Network der Öffentlich-Rechtlichen
Willkommen zu Teil 4 des ÖRRNie-Spezials. Die Suche nach einem öffentlich-rechtlichen Social Network, an dessen Ende ein Prototyp stehen soll. Wir nähern uns der Zielgeraden, und heute schaue ich mir Apps und Plattformen an, von denen sich etwas abschauen lässt, oder die dazu einladen bewusst etwas anders zu machen.
Ein kurzer Rückblick:
In FFL#5 stelle ich Ansätze und Initiativen vor, die es schon gibt, die ein öffentlich-rechtliches und/oder “europäisches” Netzwerk im Geiste haben.
In FFL#6 frage ich, welche Art von Bedürfnissen solch ein Netzwerk erfüllen sollte – noch kein konkreter Mehrwert, aber auf dem Weg dorthin
FFL#7 sucht nach Mechaniken, die Spaß machen, aber nicht süchtig
Das sind so weit die Erkenntnisse:
Was die großen Plattformen kaum ermöglichen, sind kontextuelles Verstehen, persönliches Wachstum und konstruktiver Dialog. Gleichzeitig sind das Punkte, die sehr zum öffentlich-rechtlichen Auftrag passen.
Diese Punkte sind aber nicht nur politisch gewünscht, sondern auch von Nutzenden. Die Schwierigkeit liegt darin, dass ein Erfassen vom big picture eine tiefgehendere Beschäftigung mit einem Thema voraussetzt, als wir es aus sozialen Medien gewöhnt sind. Dafür müssten lange Inhalte zugeschnitten, unterteilt und konfektioniert werden.
Eine Idee ist, dass Nutzende innerhalb personalisierter Content-Pfade in ein Thema eintauchen können und dabei immer wissen, wo sie stehen. Für den Spaß sollte die Plattform bei intrinsischer Motivation ansetzen (statt bei suchterzeugenden externen Triggern), Fortschritte fühlbar machen und das Erfahrene nachhaltig festhalten.
In den folgenden 10 Benchmarks – bereits bestehenden Apps und Plattformen – findet sich überall etwas davon wieder. Zum Schluss gibt es noch einen Bonus Track. Ich hab mir nämlich für diese Folge auch eine Liste mit allen bestehenden und vergangenen sozialen Plattformen angeschaut. Also, gehen wir rein:
1. Artifact
Leider habe ich die App der Instagram-Gründer verpasst. 2023 vorgestellt, wurde sie kürzlich eingestellt. Sie ist aber nah dran an dem, was auch ÖRRNie sein könnte: eine Social App mit Gewicht auf Nachrichten-Inhalte.
Gain:
personalisierte Themen-Feeds …
… mit verschiedenen Quellen
Man kann bestehende Abos angeben
Chronik: Es lässt sich zurückverfolgen, wie viele und welche Artikel man gelesen hat
KI-getriebener Algorithmus
mehrere Quellen bei Nachrichten (gegen Filterblasen)
Nutzende können weitere Nachrichtenquellen vorschlagen
Pain:
Themen sehr in Ressorts gedacht: Gesundheit, Fußball, Interior Design. (Ich meine, das ist viel zu grobmaschig, um wirkliche Interessen anzusprechen)
kein offenes System: Wer auf Bezahl-Inhalte zugreifen will, muss sich extern anmelden
starker Fokus auf Text
2. Blinkist
Das Versprechen von Blinkist ist das schnelle Erfassen von Sachbüchern und folglich effizientes Lernen und persönliches Wachstum. Dafür bietet die App vor allem Buch-Zusammenfassungen.
Gain:
Fortschritt erkennbar: innerhalb eines Buchs weiß ich, wo ich stehe
sowohl in Schritten als auch Zeit
Pain:
standardmäßig keine Möglichkeit Notizen festzuhalten oder Querverbindungen zu schaffen
sehr textlastig, wenig Grafik (immerhin oft auch zum Vorlesen)
Design: Ich weiß nicht, aber krasse Farbigkeit bei gleichzeitigen Bleiwüsten find ich irgendwie anstrengend?
3. Fabulous
Fabulous soll neue, gute Angewohnheiten etablieren (dabei schlechte verhindern) und baut dabei auf Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaft. Ich finde es hier besonders krass, wie klar, konkret und kleinteilig die Schritte sind, um Gewohnheiten zu ändern und neue Routinen zu schaffen. Als ich die App öffne, schlägt sie mir gleich nach dem Onboarding vor, ein Glas Wasser neben mein Bett zu stellen (um es morgens zu trinken). Sehr nachvollziehbare kleine Fortschritte also.
Gain:
intrinsische Motivationen (zum Beispiel Schlafroutinen verbessern)
personalisierte Wege zum Ziel
Ich weiß immer, wo ich gerade stehe, wie viel ich hinter und vor mir habe
Pain:
Gewohnheiten ändern und dabei ständig am Handy hängen, hm
fehlende Feedback-Möglichkeiten
4. Flipboard
Ähnlich wie Artifact versammelt Flipboard die Nachrichteninhalte verschiedener Portale in einer App. “Flipboard” heißt das wohl deswegen, weil das Bild immer so “umklappt”, wenn man im Feed nach unten geht.
Gain:
Zugriff auf Nachrichten verschiedener Quellen
hochwertiges Design
Themen lassen sich händisch weiter personalisieren
Pain:
Kann Nachrichten nicht in der App lesen, es öffnet dann ein Browser
auch hier: Ressorts erscheinen zu grobmaschig. Ich habe z.B. “Reisen” als ein Interesse angegeben, dann wurden mir die Highlights von Ravensburg und Innsbruck angezeigt. Random. Ich glaube, ein guter Algorithmus würde schnell bessere Ergebnisse bringen
textlastig
wenig aufregend oder überraschend, sehr klassisch redaktionell gedacht
5. Instagram
Mit zwei Milliarden Nutzenden die aktuell drittgrößte Plattform weltweit. Was ich für ÖRRNie spannend finde, sind einerseits die unterschiedlichsten Contentformen, die hier recht harmonisch erfolgreich nebeneinander bestehen:
Storys
persönliche Fotos
Zitat-Kacheln
Karussel-Posts mit Bildern oder Text
Memes
Reels
Videos
Live
Schnittstelle zu Threads
Text, Video, Bild, ob vergänglich oder bleibend, alles ist möglich. Unterhaltung, Politik, Rezepte, Kommerz, Aktivismus, Quatsch.
Ja, in vielem soll sich ÖRRNie von TikTok und Instagram abgrenzen. Aber da sind auch Aspekte, die diese Apps gegenüber Artifact und Flipboard auszeichnen: Es gibt viele Stimmen, nicht nur die etablierter Medienhäuser. Und diese Stimmen sind sicht- und hörbar – trotz aller berechtigter Kritik an Algorithmus, Polarisierung und Fakes.
Hinter diese Vielstimmigkeit darf eine Plattform unterm Dach der Öffentlich-Rechtlichen nicht zurückfallen. Die Öffis sollten das Prinzip eher noch weiterdenken, zum Beispiel im Sinne konstruktiver Dialoge.
Denn eine Polit-Influencerin kann genauso wertige Kommentare abgeben wie der Tagesschau-Korrespondent.
6. Monnet
Die Idee ist, die Macht über den Algorithmus wieder zurückzugewinnen. Auf der Website kann man sich für den Start des Netzwerks anmelden (es ist noch nicht fertig entwickelt). Das hochgesetzte Ziel ist, innerhalb von fünf Jahren die Nummer 1 der Social Networks in Europa zu werden.
Zu dem, was man schon sehen kann:
Gain:
simples, übersichtliches Interface
Datenschutz
größere Kontrolle über den Feed
Pain:
Ich bin etwas skeptisch, ob ein guter Algorithmus (so gruslig das auch ist) die eigenen Interessen nicht besser erkennt als selbst gestaltete Gewichtungen. Ich hoffe, das Projekt scheitert nicht an der Selbsttäuschung des Nutzenden über ihre wirklichen Interessen …
7. Obsidian
Obsidian ist die ausgeklügelste Second Brain App, die ich kenne. Sie richtet sich vor allem an Wissensarbeitende.
Gain:
Vernetzung von Gedanken (statt ein Haufen loser Zettel)
sehr übersichtlich und gute Zugänglichkeit
Visualisierung von Verknüpfungen
Baukasten-Prinzip: durch die vielen Plugins der Obsidian-Community lässt sich die App auf persönliche Anfordernisse anpassen
Pain:
Wissen stark als Text gedacht
8. Reddit
Reddit gibt es bereits seit 20 Jahren, dabei war es lange ein etwas kleineres, aber stabiles Netzwerk. Zurzeit wächst es auch und vor allem in Europa stark. Interessant für ÖRRNie ist, dass Diskussionen über jedwedes Thema der Welt hier als sehr konstruktiv gelten.
9. Tagesschau App
An der App der Tagesschau finde ich den Mixed Media Ansatz spannend. In der “Top” Ansicht bekomme ich Videos wie in einer Instagram-Story, wische ich nach unten, bekomme ich die Meldung mit mehr Tiefe in Textform. Das ist nach dem ersten Mal ausprobieren ziemlich intuitiv.
Gain:
cleaner Aufbau
gleichzeitig viele Interaktionsmöglichkeiten: gucken, tippen, weiter, vertiefen, speichern
multimedial (sehen, hören, lesen)
Ich weiß, wo ich stehe (Beispiel im Bild unten rechts: vierte Meldung von zwölf)
Pain:
keine Personalisierung
Nachrichtenbilder geben kaum Information oder Story. Mehr Funktion einer schönen Headline
10. TikTok
Die Ideen für ÖRRNie mögen zwar erst mal wie ein absolutes Anti-TikTok klingen. Aber auch wenn es vieles nicht mit TikTok gemein haben wird, lassen sich ein paar Dinge abschauen. Gerade wo TikTok immer noch state of the art ist, was Kurzvideos im Internet angeht.
Gain:
Der Algorithmus. Er lernt wirklich schnell und findet einem nach einer gewissen Zeit auch krasse special interest Juwelen. Die Kehrseite ist die Kombination mit dem unendlichen Feed, der Abhängigkeit fördert. Aber: Dass ein Algorithmus dermaßen begabt darin ist, aus Berechnungen von Interaktionen und Verweildauern für einen persönlich passgenaue Inhalte zu finden, halte ich für etwas grundsätzlich sehr Gutes. Neu wäre es, ethisch mit dieser Begabung umzugehen.
Immer neue Entdeckungen. Hier passiert Popkultur. Mir wäre niemals in den Sinn gekommen, dass etwas wie German oder Italian Brainrot existiert (hier ein Text von Marcus Bösch dazu). Aber als TikTok es mir ausgespielt hat, hat es mir die Schuhe ausgezogen und ich war begeistert. (Anderes wische ich sofort weg, dafür sehe ich es dann aber auch kaum noch.)
Masse des Inhalts. Das fällt besonders im Kontrast zu kleineren Netzwerken auf, und es ist nur logisch, aber man muss es sich erst mal vor Augen führen: sehr spezifische Interessen können nur bedient werden, wenn es unglaublich viele unterschiedliche Themenstränge und content gibt. Auch Neu-Entdeckungen und Trends sind anders kaum möglich. (Die Öffentlich-Rechtlichen haben immerhin den Vorteil, bereits Hunderte oft erfolgreiche Social Media Kanäle bereits zu besitzen. Eine öffentlich-rechtliche Plattform würde also nicht von Null starten.)
unterschiedliche Content-Formen. Kurzvideos stehen auf TikTok klar im Fokus; trotzdem gibt es auch Bildergalerien und sogar Texttafeln, die sehr gut funktionieren und genauso hohe Aufrufe bekommen.
Pain:
Auf keiner Plattform ist der Sucht-Faktor so hoch wie auf TikTok.
Wie auch das Schwinden der Aufmerksamkeitsspanne und die innere Leere nach dem Schließen der App
Daten-Unsicherheit
große Intransparenz und mangelhafte Accountability des Unternehmens (z.B. bzgl. Fakes, Diskriminierung, Volksverhetzung, Algorithmus, etc.)
(Die Liste könnte fortgesetzt werden.)
BONUS TRACK
Neben den 10 Apps und Plattformen habe ich mich durch diese spannende Liste des Center for Humane Tech geklickt, die den Anspruch hat so ziemlich alle sozialen Netzwerke und Plattformen zu sammeln.
Diese Plattformen hier fand ich witzig oder bemerkenswert:
Civi, eine App, auf denen sich gezielt zu gegenteiligen Positionen diskutieren lässt; Civicue, eine experimentelle Direktdemokratie-Plattform in Taiwan; Considerit visualisiert verschiedene Positionen zu einer Diskussion; Seven39, das Netzwerk, das täglich nur von 7.39 bis 10.39 Uhr offen hat; Sez.us ist nach einem Manifest entwickelt und man kann im Feed horizontal durch verschiedene Inhalte einer Person sliden; auf Sublime kann man Ideen auf schlichten Zetteln notieren und sortieren sowie sich von den Notizen anderer inspirieren lassen; Perfectly Imperfect tauscht man hipsterige Empfehlungen aus, am meisten mag ich aber daran den trashigen Look, der mich an die MySpace-Zeit erinnert; WeAre8 soll Menschen wieder verbinden und hängt Datenschutz recht hoch, allerdings entdecke ich in der Mechanik keinen entscheidenden Unterschied zu TikTok.
Nächstes Mal stelle ich euch den Prototypen vor. Ich bin sehr gespannt, wie konkret ich den hinbekomme.